Seit fünf Jahren gibt es in Deutschland medizinisches Cannabis auf Rezept. Das therapeutische Potenzial der Pflanze wird bei der Behandlung vieler Krankheiten aber noch nicht ausgeschöpft, sagt Franjo Grotenhermen, Vorstandsmitglied der internationalen Arbeitsgemeinschaft für Cannabinoidmedikamente.
Cannabis werde oft auf seine schmerzlindernden Eigenschaften reduziert. Bei psychiatrischen Erkrankungen könnten Cannabismedikamente zum Beispiel ebenfalls hilfreich sein, würden aber von den Krankenkassen in der Regel nicht erstattet. Auch durch die geplante Legalisierung werde sich daran nicht automatisch etwas ändern.
Blüten und Extrakte der Cannabispflanze können in Deutschland seit 2017 per Rezept verschrieben werden, zuvor war dafür noch eine Ausnahmegenehmigung erforderlich. Zudem sind Fertigarzneimittel zugelassen, die auf den Hauptwirkstoffen der Cannabispflanze basieren: dem berauschenden Tetrahydrocannabinol (THC) und dem beruhigenden Cannabidiol (CBD).
Die Fertigarzneien unterscheiden sich danach, ob sie nur einen der Wirkstoffe oder eine Kombination aus beiden enthalten. Zur Behandlung von Spastiken bei multipler Sklerose ist in Deutschland ein Spray aus Pflanzenextrakten erhältlich, das sowohl THC als auch CBD enthält.
Ein weiteres Präparat, das einen synthetisch hergestellten Abkömmling von THC enthält, ist für die Behandlung von Übelkeit bei Krebspatienten während einer Chemotherapie zugelassen. Ein CBD-reicher Cannabisextrakt ist außerdem für die Behandlung einiger seltener Formen der Epilepsie zugelassen.
Krankenkassen zahlen oft nicht
Cannabisblüten und Extrakte, die beide Wirkstoffe enthalten, werden häufig zur Linderung chronischer Schmerzen verschrieben. Das therapeutische Potenzial der Cannabinoide sei aber überaus vielfältig und gehe über diese Indikationen hinaus, sagt Mediziner Grotenhermen: „Es gibt wohl kein anderes Molekül, das ein auch nur annähernd so breites Wirkungsspektrum hat wie THC“.
Relativ gute Belege gebe es dafür, dass THC gegen Spastiken, neuropathische Schmerzen und Appetitlosigkeit hilft. CBD wirke antiepileptisch, angstlösend, antientzündlich und lindernd bei Krämpfen. Das könne einen therapeutischen Nutzen bei ganz verschiedenen Krankheiten bedeuten. Weitere Wirkungen werden zudem noch erforscht.
Grotenhermen glaubt, dass die therapeutischen Möglichkeiten, die Cannabis und Cannabismedikamente bieten, in Deutschland nicht ausreichend genutzt werden. Weil entweder die Ärzte noch nicht genug darüber wissen oder weil die Krankenkassen eine Erstattung verweigern.
Seit einer Gesetzesänderung von 2017 müssen die gesetzlichen Krankenkassen eine Behandlung mit Cannabis eigentlich erstatten, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die Standardbehandlung nicht geholfen hat oder nicht angewendet werden kann, und Aussicht auf Besserung durch die Cannabistherapie besteht. „Trotzdem tun sie es oft nicht“, sagt Grotenhermen.
Grotenhermen selbst betreibt eine private Praxis, daher sei es für ihn einfacher, Cannabis zu verschreiben, die Kosten müssen jedoch meistens von den Behandelten selbst getragen werden. „Und Kassenärzte haben bei einigen Krankheiten große Probleme damit, eine Erstattung durchzukriegen“, sagt er.
Ein großer Bereich, in dem das Potenzial von THC-reichem Cannabis als Medizin noch nicht richtig ausgeschöpft und Cannabis meist nicht bezahlt werde, sei die Behandlung psychischer Krankheiten wie der posttraumatischen Belastungsstörung und Depressionen. Auch beim Tourette-Syndrom, einer neuropsychiatrischen Erkrankung, die mit Tics einhergeht, gebe es Hinweise darauf, dass Cannabis hilft.
CBD und THC können bei Schizophrenie helfen
Für CBD habe sich bereits in Studien gezeigt, dass es bei der symptomatischen Behandlung einer Schizophrenie genauso wirksam war wie ein oft eingesetztes Medikament aus der Gruppe der Neuroleptika. Untersuchungen würden darauf hindeuten, dass bei einer begleitenden Therapie mit CBD die Dosis der Psychopharmaka reduziert werden könnte.
THC hingegen steht zwar eigentlich im Verdacht, im jungen Alter das Risiko für eine Schizophrenie erhöhen zu können oder die Symptome einer Schizophrenie zu verschlimmern. Allerdings gibt es auch Hinweise, dass THC zumindest einer kleinen Gruppe von Schizophrenie-Patienten und Patientinnen helfen könne.
In einem New Yorker Psychiatriezentrum war eine kleine Gruppe an Schizophrenie-Erkrankter unter stationären Bedingungen mit THC behandelt worden. Diese hatten alle nur schlecht auf die gängigen Medikamente angesprochen, aber berichtet, dass Cannabis ihre Symptome in der Vergangenheit gelindert habe. Bei vier Teilnehmenden der Studie verbesserten sich die Symptome durch die kontrollierte THC-Gabe, bei drei von ihnen so stark, dass sie aus der Klinik entlassen werden konnten.
Die Autoren und Autorinnen der Studie vermuteten, dass bei dieser Untergruppe der von Schizophrenie-Betroffenen eine Störung des Hirnstoffwechsels vorlag, die sich von der der anderen Erkrankten unterschied. Ein Hinweis darauf könne die Wirkungslosigkeit der üblichen Medikamente sein.
„Auch wenn es sich wohl eher um Ausnahmefälle handelt, könnten solche Menschen von THC profitieren“, sagt Grotenhermen. Er selbst hat bei einigen seiner Patienten und Patientinnen mit Schizophrenie Erfolge mit einer THC-Behandlung erzielt.
Cannabis und seine Inhaltstoffe wirken bei jedem anders
Auch bei anderen Erkrankungen seien cannabisbasierte Medikamente zwar oft hilfreich, bei vielen Kranken aber völlig unwirksam oder unverträglich. Dass eine Therapie mit Cannabis und seinen Inhaltsstoffen so unterschiedliche oder auch paradoxe Wirkungen zeigen kann, hängt mit dessen Wirkmechanismus zusammen, sagt Grotenhermen: „Es gibt körpereigene Cannabinoide, diese sind wichtige Inhibitoren im Nervensystem, das heißt, sie wirken einer Überaktivität anderer Botenstoffe im Nervensystem entgegen. Die Cannabinoide aus der Cannabispflanze entfalten eine ähnliche Wirkung und hemmen alle anderen Neurotransmitter.“
Doch das Wechselspiel der Botenstoffe ist kompliziert. Ihre Aktivität im Gehirn ist nicht bei jedem Menschen gleich und kann bei einer Erkrankung verändert sein. Daher kann auch die Wirkung von Cannabis und Cannabismedikamenten bei verschiedenen Personen und Krankheitsbildern unterschiedlich ausfallen.
Bei neuropathischen Schmerzen etwa helfe Cannabis nur in einem von etwa drei oder vier Fällen. Einer seiner Patienten mit Cluster-Kopfschmerzen sei durch Cannabis praktisch beschwerdefrei, während andere mit der gleichen Erkrankung nicht profitieren, sagt Grotenhermen.
Trotzdem lohne sich bei chronischen Krankheiten oft der Versuch einer Therapie, wenn es Hinweise gibt, dass Cannabis einigen Erkrankten helfen könne. Vor allem dann, wenn noch keine andere gut wirksame Therapie zur Verfügung steht. „Man beginnt dabei stets vorsichtig mit einer niedrigen Dosis, die man langsam steigert. So lässt sich ganz einfach herausfinden, wie man die beste Wirkung mit möglichst wenigen Nebenwirkungen erzielt“, sagt Grotenhermen.
Grotenhermen sagt, er wünsche sich, dass die Krankenkassen bei Cannabis und Cannabismedikamenten weniger Entscheidungsgewalt und Ärzte und Ärztinnen wie bei anderen Verschreibungen die Therapiehoheit hätten. Dann seien diese auch allen Kranken zugänglich, die sie nach ärztlichem Urteil benötigen und nicht nur „gut Betuchten, die sich die auf einem Privatrezept verschriebenen Arzneimittel leisten können“.
Wenn Cannabis künftig legalisiert wird, sei es zwar auch rezeptfrei erhältlich. Falls eine Therapie weiterhin nicht erstattet wird, bedeute das aber, dass eine Cannabistherapie für viele unerschwinglich bleibe.